Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Ein Strom entrauscht umwölkten Felsensaale“, so heißt es in J. W. Goethes (1749-1832) Werk „Mächtiges Überraschen“ in dem er über die Unruhen der Natur und möglicher Weise auch im Leben eines Menschen berichtet. Der Titel lässt erahnen, dass das vorerst beschriebene Motiv eine unerwartete Wendung nehmen wird, deren Ausmaß noch unerkannt bleibt. Jedoch verrät uns das Adjektiv „mächtiges“, das sich das Geschehnis zu einer großen Kraft entwickelt. Vordergründig beschreibt Goethe den Weg einer Quelle von ihrem Ursprung bis zum Stillstand ihrer Bewegung verursacht durch ein plötzliches äußerliches Eingreifen. Der Zusammenstoß zweier Naturgewalten hat zur Folge, dass die Wassermassen zur Ruhe kommen und ein „neues Leben“ entsteht.
Das Gedicht besteht aus 14 Versen die sich in 2 Quartette und 2 Terzette einteilen lassen, daraus lässt sich schließen, dass es sich bei dieser Form des Gedichts um ein Sonett1 handelt. Hierfür ist der 5 –bis 6-hebige Jambus typisch. Die 2 Quartette bestehen aus jeweils einen umarmenden Reim mit reinen (V. 1 und 4: Felsensaale/Tale) und unreinen Reimen (V. 2 und 3: verbinden/Gründen). Wohingegen die beiden Terzette zusammen zwei dreifache Reimreihen bilden, weibliche Kadenzen2 ziehen sich durch das ganze Sonett wie ein roter Faden.
Die einzelnen Phasen des Gedichts sind so strukturiert, dass jede Strophe weitestgehend voneinander losgelöst existiert. Schon im ersten Quartett kann man das Lärmen und Toben des Stromes nahezu nachempfinden. Mit der Personifikation3 „ein Strom entrauscht umwölkten Felsensaale“ (V. 1) wird die zunächst existierende Kraft ausdrucksstark erläutert, außerdem wird mit Hilfe des Neologismus4 „umwölkten“ diese Stimmung noch einmal lebhaft unterstützt. Die nicht zu stoppenden Wassermassen steuern „unaufhaltsam“ (V. 4) auf den Ozean zu, um sich mit ihm „eilig zu verbinden“ (V. 2). Zunächst scheint es, als könne nichts in der Welt diese Strömung aufhalten. Es erweckt den Eindruck als würden diese Wassermassen so ungestüm fließen, dass sich ihre Wege scheiden. Das wird mit der Steigerung „von Grund zu Gründen“ (V. 3) noch bestärkt. Es bleibt keine Zeit für eine lange Beobachtung einer Spiegelung im Strome. Beständig rauscht das Wasser „fort zu Tale“ (V. 4) als könne ihn nichts stoppen. Doch plötzlich tritt eine unerwartete Überraschung auf, die Natur selbst ist es, welche es vermag, in den vorherigen Zustand einzugreifen und dadurch eine bedeutende Wende herbeizuführen.
Um das plötzliche Entgegentreten einer anderen fremden Kraft auszudrücken, schildert Goethe diesen Vorgang mit dem negativ besetzten Adjektiv „dämonisch“ (V. 5). „Mit einem Male“, also völlig unerwartet, tritt ein Bergrutsch ein, der das gesamte Geschehen zerstört und den Strom blockiert. Die Macht, der herabfallenden Gesteine, scheint so groß und gewaltsam zu sein, dass „Berg und Wald“ (V. 6) ihm folgen. Das wird auch durch eine Art Alliteration5 „Wald in Wirbelwinden“ (V. 6) noch einmal unterstrichen und hebt die Zusammengehörigkeit der einzelnen Elemente noch einmal hervor. Der Bergrutsch selbst, wird als Oreas, eine Bergnymphe, personifiziert. Sie hat sich das Ziel gesetzt den Verlauf des Wassers zu zerstören, um nach vollbrachter Tat „Behagen [...] zu finden“ (V. 7). Mit ihren [„dämonischen“] (V. 5) Fähigkeiten, hat sie die Macht den Fortlauf des Flusses anzuhalten, und ihren Lauf zum Ozean, der metaphorisch dargestellt wird als „weite Schale [zu begrenzen]“ (V. 8).
Mit der Verwendung des Verbs „hemmt“ wird diese Veränderung der Bewegung noch einmal ausgedrückt. Zunächst sträubt sich das Wasser vor der sie erdrückenden Macht, denn es möchte weiterhin auf sein Ziel zusteuern. Das unermüdliche Bestreben, es doch zu schaffen, wird durch eine Steigerung von Verbahnhäufungen im Zeilensprung metaphorisch dargestellt: „Die Welle sprüht und staunt zurück und weichet und schwillt bergan“ (V. 9f). Die Welle selbst wird hier personifiziert, dass kommt durch die Verben „staunt und weichet“ (V. 9) zum Vorschein (V. 10). Doch das Bemühen scheint aussichtslos, durch das Paradoxon6 „sich immer selbst zu trinken“, wird gezeigt, dass sich die Wellen „selbst ersticken“ und der Fluss allmählich zum Stillstand kommt. Das Ziel, die Verbindung mit dem Ozean, der in Vers 11 als Vater bildlich dargestellt wird, um die Wichtigkeit seines Daseins zu verdeutlichen, scheint gescheitert. Mit der Formulierung „Hin das Streben“ wird diese Aussage noch einmal unterstützt und es wird gezeigt, dass die Welle sich darüber „im Klaren ist“.
Im letzten Terzett wird der nun eintretende Stillstand der Bewegung der Quelle anschaulich beschrieben. Mit dem Oxymoron7 „sie schwankt und ruht“ wird lebhaft dargestellt, wie der Ruhestand langsam eintritt, sie sich ihrem Schicksal ergeben und sich zu einem See vereinen. Erst jetzt, in diesem See, können sich die funkelnden Gestirne spiegeln (V. 13), das eigentlich Schöne kommt nun, im Zustand der Ruhe zu Geltung. Durch den Zeilensprung „beschau‘n das Blinken des Wellenschlags“ wird die ruhige, fortlaufend gleichmäßige Atmosphäre dargestellt. „Ein neues Leben“ (V. 14) hat begonnen, ohne hektische Zielbestrebungen kommt das Wasser, zwar unerwartet früh, aber dennoch wie es anfangs wollte, zur Ruhe. Das „dämonische“ ist hier nicht NUR, wie es zunächst scheint, der Eingriff eines Störenden und Ablenkenden. Der so gestaute Fluss, wird zum See, die gebremste Welle beruhigt sich zum stillen, ruhigen Gewässer. So lässt sich die dämonische Störung schließlich als eine neue Gestalt des Seins „ein neues Leben“ darstellen.
Hinter den augenscheinlichen Unruhen der Natur könnte sich jedoch auch etwas Anderes verbergen. Der Lauf des Flusses kann als Lebenslauf eines Menschen wahrgenommen werden. Ein anfängliches Streben nach einer Sache, wird durch ein einschneidendes Erlebnis, ein völlig anderes Ende nehmen. Doch inwiefern verbindet Goethe das Verlangen der Quelle, zu ihrem „Vater“ zu gelangen mit dem Verlangen eines Menschen bzw. möglicherweise auch mit sich selbst? Vielleicht soll dieses Gedicht auch eine Momentaufnahme seines Inneren darstellen, denn zur Zeit des Verfassens dieses Werkes befand er sich in einer Lebenskrise.
Hinter diesem Weg des Wassers kann man durchaus das frühzeitige unerwartete Eingreifen des Todes sehen: Der Mensch läuft meist zielstrebig durch das Leben und denkt nicht an ein plötzlich eintretendes Ende, welches jeder Zeit nahe liegen könnte. Der Tod, welcher wohl von den meisten Menschen eher grausam wie erlösend gesehen wird, bringt den Menschen laut diesem Gedicht doch erst zum wahren Ziel. Es scheint als sehe er den Tod als Anfang für ein neues Leben, als eine neue Chance.
Anhand dieses Gedichts lässt sich Goethes Symboldefinition nachweisen. Der Anlass für dieses Gedicht war meiner Meinung nach, ein einschneidendes Erlebnis, wie z. B. der Tod eines nahestehenden Freundes, wie Schiller, der eine tiefe Trauer auslöste. Goethe beobachtete die Natur und stellte eine Verbindung zum Menschen her. Und aus dieser Beobachtung entstand das Symbol, in diesem Fall sei es der Ursprung und Lauf einer Quelle. Die Verbindung von Natur und Mensch ist ein deutliches Merkmal der Klassik.
Als Reaktion auf die Erfahrungen des Sturm und Drang stehen im Zentrum des klassischen Konzepts das Streben nach einem harmonischen Ausgleich der Gegensätze, denn genau dieser Ausgleich war ja in der Realität der Französischen Revolution und der Literatur des Sturm und Drang gescheitert und führte zu deren zunehmender Eskalation. In Anlehnung an das antike Kunstideal wird in der Klassik nun nach Vollkommenheit, Harmonie, Humanität und die Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht.
Somit ist das Aufeinandertreffen von „ungebremster Freiheit“ des Flusses und den Hindernissen, sowie dem unendlichen Ozean und dem begrenzten See, besonders auffällig und stellt einen erneuten Bezug zur Klassik dar.
Diese Gegensätze söhnen sich aber schließlich, spätestens als das neu entstandene Leben erwähnt wird, in Harmonie aus.
Meiner Meinung nach ist es Ziel des Sonetts, dem Menschen zu verdeutlichen, dass manche Dinge trotz anfänglicher Schwierigkeiten, eine gute Wendung nehmen können. Für mich hat das Gedicht auch heute noch einen aktuellen Bezug, da man diese Situation in allen Lebenslagen nachweisen kann.